ownsx // folge 97
Willkommen im neuen Jahr!
… und in der ersten Ausgabe des Newsletters 2024.
Dies ist noch nicht die übliche Presseschau – sondern die zweite Sonderfolge, wie immer rund um den Jahreswechsel: Rückblick eben.
Wie schon vor zwei Wochen notiert: Normalerweise versammelt jede Newsletter-Ausgabe ja nur die Auswahl von Ost/West-Beiträgen, die mir unter die Nase geraten sind in den vorausgegangenen 14 Tagen.
Nach Sonderausgabe I kommt hier nun Sonderausgabe II:
mit Ost/West-Stücken, die anderen in diesem Jahr besonders aufgefallen sind.
Merci an dieser Stelle allen 13, die mir ihre persönliche Besten-Auswahl 2023 geschickt haben – unten folgt die zweite Hälfte.
Der Newsletter ist kostenlos.
Tausend Dank allen, die die Presseschau in diesem Jahr unterstützt haben. Sei es, indem Sie ein Abo empfohlen haben oder auch hier und da eine kleine oder größere freiwillige Spende schickten. Ich freue mich sehr über diese Wertschätzung.
Wer über Unterstützung nachdenkt, das geht unkompliziert via Paypal hier:
Kommen Sie gut in die ersten Tage und Wochen dieses Jahres, das vermutlich turbulent werden wird.
Apropos Rückblick:
Eine anderer Art “Jahresabbild” findet sich hier in der Liste mit Ost/West-Büchern 2023.
Und worüber haben wir hier eigentlich vor einem Jahr geredet?
Hier direkt zu Folge 73 vom 2.1.
Noch mal fix zwei Sätze zur Erklärung:
Der Newsletter von ostwestnordsuedx zieht alle zwei Wochen einen Strich – und packt Beiträge rund um Ost/West zusammen, die in den +/-14 Tagen zuvor aufgefallen sind. Damit sich nicht alles versendet. Als eine Art temporäres Archiv.
1. DENISE PEIKERT empfiehlt:
(@denuse / LVZ)
Podcast: “Springerstiefel: Fascho oder Punk?”, Hendrik Bolz, Don Pablo Mulemba / MDR Sputnik
“Eine Podcast-Reihe für alle, die noch nichts Genaues über die 90er in Ostdeutschland gehört haben – und für die, die glauben, schon alles dazu zu wissen. Hendrik Bolz und Don Pablo Mulemba reden mit Nazis, die heute keine mehr sind (oder doch?). Mit Linken, die heute immer noch welche sind. Und mit einem Mann aus Angola, der damals in Brandenburg eine Familie gründete. Obacht: Manches davon ist schmerzhaft.”
Text: “Blaue Insel Gelsenkirchen”, Thorsten Fuchs / RND+
“Nein, es hätte das Jahr 2023 nicht gebraucht für die Erkenntnis, dass die AfD weder eine Protestpartei noch eine Ost-Partei ist. Trotzdem ist dieser Text wichtig, weil beide Gerüchte sich hartnäckig halten: Thorsten Fuchs besucht Gelsenkirchen, eine westdeutsche AfD-Hochburg. Und erzählt, was die AfD wirklich ist und warum so viele sie wählen.”
Text: “Los Wochos in Lostdeutschland”, Cornelius Pollmer / Süddeutsche Zeitung+
“Wer die Ost-West-Debatte 2023 wider aller Wahrscheinlichkeiten überhört hat, sollte wenigstens einen Text lesen – den von Cornelius Pollmer. Wer alles dazu schon kennt, kann auch nochmal reingucken und sich die so kurz vor Jahresschluss wenigstens scheinbar drängende Frage stellen: Sind wir jetzt mit dem ganzen Ost-West-Gepäch woanders, als wir es im Frühjahr waren?”
2. JOHANNES NICHELMANN empfiehlt:
(@JoNichelmann / studio-jot.de)
Buch: “Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat“, Aron Bok / HarperCollins
“Aron ist 1997 in Sachsen-Anhalt in eine Familie hineingeboren worden, deren Oberhaupt zu den bekanntesten Künstlern und Kulturfunktionären der DDR gehörte. ‘Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt’, lautete ein Spruch. Willi Sitte war sozialistischer Künstler durch und durch. Aron ergründet die Lebensgeschichte seines Urgroßonkels bis ins Detail und stößt dabei auf viel mehr: seine gesamte Familiengeschichte. Wie wurde er als Nachwendekind dadurch geprägt? Ein spannendes Buch, erschienen bei Harper Collins.”
Buch: “Gittersee“, Charlotte Gneuß / S. Fischer
“1976, in der DDR. Die 16-jährige Karin lebt ein normales Teenagerleben, bis ihr Freund zu einem Ausflug aufbricht, von dem er nicht mehr zurückkehren wird. Dieser Roman hat mich in diesem Jahr so begeistert, wie kaum ein anderer. Rhythmus, Sprache, Geschichte – Charlotte Gneuß ist hier wirklich was Großes gelungen. Vollkommen zurecht ist sie dafür mit Preisen und Nominierungen überhäuft worden. Einzig verstörend war die Debatte, die der Autor Ingo Schulze angestoßen hat, ob er – überspitzt gesagt – wirklich nicht der einzige sein sollte, der über die DDR schreiben darf. Unerträglich, dass sich die Autorin mit dieser unsinnigen Generationendebatte herumschlagen musste und sie den Erfolg ihres Debüts an manchen Tagen vielleicht nur eingeschränkt genießen konnte. Bitte lest dieses Buch, erschienen bei S. Fischer.”
3. IRIS MAYER empfiehlt:
(@imayer / Süddeutsche Zeitung)
Doku: “Alles anders machen. Das kurze Leben der Ost-taz“, Michael Biedowicz / RBB
“Die Dokumentation über das kurze Leben der Ost-taz im RBB. Mit mehr als 30 Jahren Abstand ist es faszinierend zu sehen, wie groß der Enthusiasmus der Ostler für dieses Projekt war und wie schnell er an der Ignoranz der Westler und am Markt scheiterte. Für die West-taz war das Experiment dank der staatlichen Förderung ein Glückslos für die eigene Sanierung, heute erinnert sich fast niemand an dieses Experiment. Allein für das ungläubige Brummeln in der Eingangsszene ‘Die Ost-taz?????????’ von Giovanni di Lorenzo, Hans-Ulrich Jörges und Hajo Schumacher lohnt sich dieser feine Film.”
Text: “Diestel und Krause“, Martin Nejezchleba / Zeit+
“Eine Autofahrt mit Peter-Michael Distel und Günther Krause und ein Text wie ein Roadmovie. Lieblingsstelle: Diestel erklärt Krause: ‘Wissen Sie, beim Günther ist das so: Seine scharfe Intelligenz ist dem normalen Bürger überlegen. Er findet immer Wege, die andere nicht sehen. Aber diese Wege sind oft nicht vom geltenden Recht abgedeckt.’”
Text: “Eine kinderreiche Familie demonstriert sich durch Sachsen. Wer sind die Suttners?“, Manuela Müller / Freie Presse+
“Wer als Berichterstatter in Sachsen unterwegs ist, wird irgendwann auf die Familie Suttner treffen und sich fragen, warum die mit ‘Kinder schlägt man nicht’-Plakaten vor CDU-Veranstaltungen auflaufen. Die Erklärung steht in der Freien Presse.”
4. STEFAN LOCKE empfiehlt:
(@stefan_locke / FAZ)
Text: “Streik in Espenhain: Der Stolz der sächsischen ‘Schrotter’“, Hendrik Lasch / nd
“Der unermüdliche Reporter Hendrik Lasch geht den Verhältnissen in Ostdeutschland gründlich und stilistisch überragend auf den Grund, in diesem Fall den unhaltbaren Verhaltensauffälligkeiten westdeutscher Unternehmer im Osten.”
Text: “Das ewige Bild vom deformierten Osten“, Stefan Locke / FAZ+
“Über einen Tweet, der im Westen viel Wirbel verusachte, im Osten aber kaum jemanden noch gewundert hat, weil viele schon gar nichts anderes mehr erwarten”
Text: “Streit um sowjetisches Ehrenmal in Dresden“, Stefan Locke / FAZ+
“Über den Streit um ein sowjetisches Ehrenmal in Dresden in Zeiten des Krieges.”
5. CHRISTIAN BANGEL empfiehlt:
(@christianbangel / Zeit)
Text: “Nazi-Schmierereien gibt es schon lange – aber etwas ist neu“, Janet Neiser / MOZ+
“Im vergangenen August wurde eine 16-Jährige Aktivistin namens Pia in Eisenhüttenstadt Opfer einer Kampagne von Neonazis, die ihr an verschiedenen Orten der Stadt auf Graffitis mit dem Tod drohten. Die Stadtverwaltung reagierte nach dem Schema ‘Imageproblem’. Die Klarheit, mit der die Journalistin Janet Neiser unter anderem in diesem Kommentar darauf reagierte, ist leider nicht mehr selbstverständlich. Props an Janet und alle, die wieder öfter mit dem Nestbeschmutzervorwurf zu tun haben und standhalten.”
Text: “Na, dann müssen Sie da wegziehen!“, Manja Präkels / Luxemburg
“‘Seid ihr noch berührbar? Ja, aber nur für die eigene Sippe.’ Dieser kurze Text von Manja Präkels ist vermutlich das prägnanteste Gegenwartsportrait des Ostens, wie er in das mutmaßlich bittere und historische Jahr 2024 segelt. Jeder Satz!”
Machen: “B96 begradigen“, Birgit Kieschnick, Anne Rabe et al.
“Nix zum Lesen, eher was zum Freuen und Nachahmen: Was Birgit Kieschnick, Anne Rabe und viele andere Woche für Woche unter dem Motto #b96begradigen veranstalten, macht mich auf eine ganz besondere Weise froh. (Und dass Anne Rabe die Ostdebatte in diesem harten Jahr wirklich vorangebracht hat, sei hiermit auch gewürdigt).”
Video: “Hier wird ni gehutzt!“, Anna Mateur / MDR
“Und ich weiß glaub ich auch schon, was ich schauen werde, wenn ich 2024 nicht aushalte: Anna Mateur und diese grandios pegideske Abrechnung mit den Erzgebirglern.”
6. VALERIE SCHÖNIAN empfiehlt:
(@valschnian / Die Zeit)
Buch: “Lütten Klein“, Steffen Mau / Suhrkamp
“Manche Ost-Debatte bräuchte andere Bücher. Deswegen möchte ich dieses empfehlen, Steffen Mau, Lütten Klein, auch wenn es nicht aus diesem Jahr ist. Aktuell ist es trotzdem. Ich habe es selbst vor ein paar Monaten (nochmal) zur Hand genommen, um wieder ein bisschen mehr den Osten zu verstehen. Steffen Mau erklärt in seiner soziologischen Analyse anhand seines eigenen Aufwachsens in Lütten Klein die Ostdeutschen, ihre Erfahrung, ihren Blick auf die Welt. Das tut er ohne viel Ärger, Polemik, Spaltung. Das Ganze ist erhellend, auch wenn man sich schon eine Weile mit dem Thema beschäftigt.”
Buch: “Gittersee“, Charlotte Gneuß / S. Fischer
“Gute Romane über gerade Geschehenes finden sich nicht leicht. Charlotte Gneuß hat so einen geschrieben. ‘Gittersee’ ist erst einmal: sehr gute Literatur. Aber nicht, weil es darin um die Geschichte einer jungen Frau in den Missverhältnissen der DDR geht. Sondern weil die Figurenzeichnung so treffend ist, dass man sie ein bisschen verachtet, aber noch mehr versteht. Man fühlt mit, fiebert mit, will wissen, wie es weitergeht, und ist überrascht, wie am Ende alles zusammenhängt. Und Charlotte Gneuß schreibt in einer Sprache, die es so nicht oft gibt in Deutschland: einfach, direkt, alle Komplexität darin versteckt und dabei wunderschön. Und mit all dem, was die Autorin da kann, erzählt sie eine Geschichte aus dem Alltagsleben der DDR, zum Glück. Denn die ist noch immer zu wenig verstanden, und um das zu ändern, braucht es manchmal eben auch: sehr gute Literatur.
Text: “So isser, der Bayer“, Martin Machowecz / Zeit+
“Auf den Osten wird anders geschaut als auf den Westen. Das zeigt sich zum Beispiel immer wieder nach Wahlen, bei denen die AfD stark wird. Passiert das im Osten, heißt es: Was ist mit den Ostdeutschen los? Im Westen: Was haben die anderen Parteien falsch gemacht? Einmal geht es (eher) um Parteipolitik, einmal um Psyche. Das hat natürlich damit zu tun, dass viele Kommentatorinnen im Westen sitzen und den Osten von dort aus weniger im Blick haben. Martin Machowecz hat den Spieß vor der Bayern-Wahl für Die Zeit ein bisschen umgedreht. In seinem Text ‘So isser, der Bayer’ schreibt er: ‘Der Reporter fliegt ein, wie ein westdeutscher Reporter jahrzehntelang in den Osten eingeflogen ist: hinfahren, Katastrophe besichtigen, Urteil abgleichen, aufschreiben.’
Das Ergebnis ist ein wirklich lustiger, aber auch interessanter Text, der einem einmal die Absurdität von manch Mediendynamik vorführt. Aber der auch zeigt, wie wichtig es ist, als Berichterstatterin alles im Blick zu haben, gerade wenn es um die AfD geht. Und etwas über Bayern lernt man auch.”
7. NHI LE empfiehlt:
(@nhile_de / nhi-le.de)
Website: “Porträtreihe zu (p)ostmigrantischen Initiativen in Ostdeutschland“, jugendstil-projekt.de
“Ich hab dieses Projekt entdeckt. Ist von Sommer 2022, aber ich habe es erst dieses Jahr gefunden und bin durch diese Portraitreihe auf viele migrantisch ostdeutsche Projekte aufmerksam geworden.”
Folge 98 des #ownsx-Newsletters erscheint am 15.1.2024
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